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Ich sitze im Zug von Dortmund nach Paris, auf dem Weg zu einem Kolloquium in Sciences Po, auf Einladung des Historikers Paul Dietschy. Schräg gegenüber von mir vier ältere Damen und Herren, die sich zunächst sehr rege über ihre Enkel austauschten. Durch das Anschauen der vielen Fotos und Videos und das gleichzeitig ständige Ruckeln im Zug waren die Personen sichtlich erschöpft, was zu einer längeren Unterbrechung ihrer Konversation führte. Es wurde laut gegähnt und aus dem Fenster geschaut.
Plötzlich hielt eine der Personen eine Zeitung hoch und sagte voller Erregung: „Das habt ihr bestimmt schon mitbekommen! Als ich das Bild heute Morgen in der Zeitung gesehen habe, habe ich mich total darüber aufgeregt! Das kann doch nicht wahr sein! Wie dumm sind die eigentlich?!“. Auf dem Titelblatt sah ich meinen Bruder Ilkay und Mesut Özil, die dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ein Trikot ihrer Vereinsmannschaften Manchester City und Arsenal überreichten. Nach dem letzten Spieltag der englischen Premier League und kurz vor der Bekanntgabe des Kaders der deutschen Fußballnationalmannschaft für die FIFA Weltmeisterschaft in Russland trafen sich die beiden deutschen Nationalspieler mit dem türkischen Staatspräsidenten in London. Dieses Foto löste eine heftige Debatte in Deutschland aus. Den Spielern wurde vorgeworfen, sie hätten sich für Wahlkampfzwecke instrumentalisieren lassen – einen Monat vor den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 24. Juni. Zumal die politischen Beziehungen der beiden Länder derzeit angespannt sind und türkische Wahlkampagnen in Deutschland untersagt.
Es ist erstaunlich welche Wirkung ein Foto von einem Fußballer mit einem (oder mehreren) ausländischen Staatspräsidenten haben kann. Im Jahr 2015 gab es im Rahmen des Staatsbesuchs des chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Großbritannien einen Termin bei Manchester City. Der argentinische Stürmer Sergio Aguero machte damals ein Selfie gemeinsam mit Xi und dem damaligen britischen Premierminister David Cameron. Auch dieses Foto erhielt sehr viel Aufmerksamkeit. Was sich allerdings grundsätzlich von der aktuellen Polemik um Gündogan und Özil unterschied, war die Wahrnehmung, Rezeption und Reaktion der Medien und der Bevölkerung. Es wurden viele Witze über den britischen Premierminister gemacht, da er der Ausübung einer „Photo-Bomb“ bezichtigt wurde. Was Xi Jinping betrifft, gab es eine Diskussion darüber, warum er diesem Selfie zugestimmt habe, da spekuliert wurde, er sei eigentlich ein Fan des lokalen Erzrivalen Manchester United. Sergio Aguero wurde dagegen kaum kritisiert. Er wurde nicht dafür beschuldigt, dass er durch dieses gemeinsame Foto die Legitimation eines autokratischen Systems bzw. Führers konsolidiere. Er wurde nicht dafür angeklagt, dass er moralisch falsch gehandelt habe, da die freiheitlich-demokratischen Werte durch die leninistische Parteidiktatur in China nicht hinreichend repräsentiert würden. Er wurde auch nicht dafür angegriffen, dass er seiner Verantwortung als Vorbild für Millionen von Kindern und Jugendlichen nicht nachgekommen sei, etc.
Auch wenn beide Situationen die gleiche Aktion enthalten – Fußballer macht Foto mit einem autokratischen Führer –, werden beide Szenarien sehr unterschiedlich wahrgenommen. Warum?
Der Grund dafür ist, dass in dem aktuellen Fall tiefsitzende nationale Identifikationsmuster und Formen der Repräsentation betroffen sind, welche auf Zugehörigkeitsgefühlen, wahrgenommener Singularität und Nationalstolz beruhen, und in dem anderen Fall eben nicht.
Der Kontext ist ausschlaggebend. Das Thema Identifikation und Repräsentation entfacht starke emotionale Zu- und Abneigungen. Die Formation von Identitäten oder die Frage nach der politischen Repräsentation spielte bei dem Aguero Beispiel keine Rolle. Er musste nie in Erwägung ziehen, ob er für die argentinische oder chinesische Nationalmannschaft spielt, noch hat er die chinesische Staatsbürgerschaft oder eine andere familiäre Beziehung zu dem Land.
Ganz anders bei Gündogan und Özil. Beide sind in Deutschland geboren, dort zur Schule gegangen, und dort zu professionellen Fußballspielern gereift. Ihre Eltern und Großeltern sind aus der Türkei nach Deutschland ausgewandert. Die beiden mussten sich für eine der beiden Nationalmannschaften entscheiden und sie haben sich für die deutsche Auswahl entschieden. Beide sind durch ihre sportlichen Leistungen und ihren hohen Bekanntheitsgrad zu Vorzeigebeispielen für eine gelungene „Integration“ in die deutsche Gesellschaft geworden. Interessanterweise wurde der türkische Nationalspieler Cenk Tosun, der auch an dem Treffen mit Erdogan teilnahm, nur am Rande erwähnt. Er ist zwar auch in Deutschland aufgewachsen und spielte für deutsche Jugendnationalmannschaften, entschied sich aber letztendlich für die türkische Nationalmannschaft. Es gab aber kaum jemanden, der sich über ihn aufgeregt hat.
Das Treffen der beiden deutschen Nationalspieler mit dem türkischen Staatspräsidenten ist also nicht so brisant und umstritten, weil sich Fußballer mit einem autoritären politischen Führer haben ablichten lassen, der eine Reihe von freiheitlich-demokratischen Werten und Überzeugungen nicht respektiert. Es ist brisant, weil den Spielern „Hochverrat“ vorgeworfen wird. Sie haben sich für die deutsche Nationalmannschaft entschieden, wie kann es daher sein, dass sie sich dennoch mit der Türkei identifizieren? Wie kann es sein, dass jemand der als Vorzeigeobjekt für gelungene Integration in Deutschland gilt, dem türkischen Staatspräsident ein Trikot mit der persönlichen Widmung: „Für MEINEN Präsidenten“ überreicht?
In der Volksrepublik China wäre es vermutlich zu ähnlich emotionalen Reaktionen gekommen, wenn der frühere Basketball Star Yao Ming der amtierenden Staatspräsidentin von Taiwan Tsai Ing-Wen ein Basketballshirt mit der Aufschrift „Für MEINE Präsidentin“ geschenkt hätte (vielleicht aber auch nicht, weil dieses Foto in Volksrepublik China vermutlich zensiert worden wäre).
Fakt ist, dass Menschen viele Identitäten und Loyalitäten zu verschiedenen Gruppen haben. Der indische Nobelpreisträger Amartya Sen schrieb in seinem Buch „Die Identitätsfalle – Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“, dass wir Menschen uns als Mitglied einer Vielzahl von Gruppen verstehen, denen wir allen angehören (z. B. Staatsangehörigkeit, Wohnort, geographische Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Klassenzugehörigkeit, politische Ansichten, Beruf, Arbeit, Essgewohnheiten, sportliche Interessen, Musikgeschmack, soziale Engagements, usw.). Jedes dieser Kollektive verleiht einer Person eine bestimmte Identität. Es ist daher falsch eine Person auf eine singuläre Zugehörigkeit zu reduzieren. Die Aussage von Frank-Walter Steinmeier, dem Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland: „Heimat gibt es auch im Plural“ ist daher zutreffend.
Darüber hinaus sind Identitäten und Identifikationsmuster nicht statisch, sondern kontextbezogen und situativ sehr flexibel und wandlungsfähig. Es kann daher durchaus sein, dass die beiden deutschen Nationalspieler sich bei dem Treffen mit dem türkischen Staatspräsidenten eher mit der Türkei verbunden fühlten. Dies ist möglicherweise auch in der äußerlichen Erscheinung von Gündogan erkennbar („türkischer Schnauzer“). Dieses Phänomen wird von der deutschen Ethnologin Nina Szogs auch „Self-Turkified“ genannt. Es ist wiederum durchaus wahrscheinlich, dass die Spieler sich im Trikot der deutschen Nationalmannschaft (oder auch im täglichen Leben) mehr mit Deutschland verbunden fühlen. Das eine schließt das andere nicht aus.
Die oben erwähnte Ethnologin Nina Szogs untersuchte in den letzten Jahren die Praktiken und Narrative von Galatasaray- und Fenerbahçe-Fans in Wien, also jener Gruppe, die in der Regel als Bürger „mit türkischem Migrationshintergrund“ bezeichnet werden. Viele Ergebnisse dieser Studie können auch auf den deutschen Kontext übertragen werden. Sie fand heraus, dass das Fandasein für diese Menschen zu einem türkischen Fußballklub eine Strategie ist, um Heimat und Zugehörigkeit zu einer konstruierten türkischen Gemeinschaft aufrechtzuerhalten und eine generationsübergreifende Kontinuität zu suggerieren. Ihre Forschung legt nahe, dass eine Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft vermutlich nicht dazu führen würde, dass Menschen „mit türkischem Migrationshintergrund“ sich ausschließlich mit Deutschland identifizieren.
War die Entscheidung der beiden Nationalspieler, sich mit Erdogan vor den türkischen Präsidentschaftswahlen zu treffen nicht dennoch eine „dumme“ Aktion? Es gab in der Tat einige Medienkommentare, welche die Fußballer als „dumm“ und „realitätsfern“ bezeichneten.
Zunächst einmal gibt es keine allgemeingültige Definition von Intelligenz (oder Dummheit). Aber nehmen wir an, dass mit Dummheit ein fehlendes Verständnis für die entstehenden Konsequenzen einer Handlung gemeint ist: unter diesem Aspekt war dieses Treffen in der Tat „dumm“. Das Klischee von dem nicht so hellen Fußballer sollte dennoch nicht bedient werden – gleichwohl es einige Medienvertreter reflexartig getan haben („Beine statt Hirn“). Am Anfang der Fußballerkarriere meines Bruders habe ich mit ihm in Nürnberg gelebt und durfte miterleben, wie er neben dem täglichen Bundesligageschäft sein Abitur (in Bayern!) absolviert hat. Hätte er einen akademischen Karriereweg eingeschlagen, wäre er vermutlich auch sehr erfolgreich gewesen.
Die Frage nach der Verantwortung für diese „Dummheit“ sollte jedoch noch weiter differenziert werden. Den Spielern waren die Konsequenzen dieses Treffens in der Tat nicht bewusst, da sie sich nicht sonderlich für Politik interessieren. Wieso treffen sie sich dann mit Erdogan? Tatsächlich waren die Organisatoren und Initiatoren dieses Treffens nicht Ilkay Gündogan oder Mesut Özil, sondern ein Beraterteam, dem die Konsequenzen dieses Treffens hätte bewusst sein müssen. Falls nicht, sind es schlichtweg keine guten Berater. Vorrauseilender unreflektierter Gehorsam ist immer schädlich. Zu häufig kommt es vor, dass die ideellen und finanziellen Interessen der Berater denen der Spieler übergeordnet werden, aber solange den Fußballern vorgegaukelt wird, dass sie sich NUR auf den Fußball konzentrieren sollen, werden wir derart unglückliche Erscheinungen wahrscheinlich noch öfter sehen.
Wie der aktuelle Vorfall zeigt, werden Fußballer mit Migrationshintergrund in der Nationalmannschaft eines Einwanderungslandes offensichtlich als „Botschafter“ wahrgenommen, denen über das Spielfeld hinaus eine echte Verantwortung zugeschrieben wird. Das mag einerseits disproportioniert und für den Einzelnen schwer zu tragen sein, leistet aber andererseits auch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur positiven Konnotation von Vielfalt und pluraler Identitäten. Wie Ergebnisse des Forschungsprojekts FREE zeigen, erachtet eine große Mehrheit der Menschen – zwischen 75 und 80%! – in Deutschland, Frankreich, oder Großbritannien, dass diese Fußballer „einen wichtigen Beitrag zur sozialen Integration“ in ihren Ländern leisten. Das sind beachtliche Werte, weit verlässlicher als punktuell hochkochende Emotionen in den sozialen Netzwerken oder Kommentarspalten der Tageszeitungen.
Fußballer profitieren in vielerlei Hinsicht von der unglaublichen Strahlkraft ihres Spiels. Entsprechend sollten sie sich auch dessen bewusst sein, dass ihnen in unserer Epoche eine soziale und politische Verantwortung zugewachsen ist, die sie zwar nicht gesucht haben, der sie sich aber nicht entziehen können.
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