Raus aus der Brühe – Stregspiller

von J. Schuetz

 

Almere – kaum ein anderer Ort in den Niederlanden verkörpert Zukunft und Aufbruch besser, wie die künstlich geschaffene Stadt vor den Toren von Amsterdam.

Grund und Boden wurden in den 60iger Jahren dem Ijsselmeer abgerungen und 1976 war das erste Gebäude fertiggestellt.

Dank den Visionen des niederländischen Stararchitekten Rem Koolhaas ist das Zentrum von Almere heute fast autofrei – die Parkplätze und Straßen liegen unter der Oberfläche und derzeit leben 220.000 Einwohner in der jüngsten Stadt der Niederlande.

Neustart – wieder einmal

Ein Ort wie geschaffen, für den Neustart der deutschen Frauen Handballnationalmannschaft unter dem neuen Trainer Markus Gaugisch.

Nach der gescheiterten Vetragsverlängerung mit Gaugisch’s Vorgänger, Henk Groener, wurde vorletzte Woche der aktuelle Trainer der SG BBM Bietigheim als dessen Nachfolger der Öffentlichkeit präsentiert.

Keine echte Überraschung – Gaugisch’s Name fiel häufiger im Zusammenhang mit der vakanten Stelle und das gute Verhältnis zu DHB Sportvorstand Axel Kromer nährte die Vermutungen, im Vorfeld der Vertragsverhandlungen.

In Almere stand Markus Gaugisch, anlässlich des Europameisterschafts Qualifikationsspiel gegen Griechenland (der Griechische Handballverband hatte sich bereit erklärt das Rückspiel in die Niederlande zu verlegen), zum ersten Mal an der Seitenlinie.

Die Partie gegen die Griechinnen wurde erwartungsgemäß gewonnen (40:11) und auch im folgenden Testspiel gegen die Heimmannschaft gab es keine Überraschung.

„Das war sehr intensiv und im Vorfeld auch etwas hektisch, aber insgesamt ziehe ich eine sehr positive Bilanz, wenn man die Partie gegen die Niederlande ausklammert“, lautete das Fazit, des Bundestrainer, nach der erfolgreichen Qualifikation und der 24:18 (13:5) Niederlage gegen die Niederlande.

“Ausklammern” – genau das gilt es zu vermeiden.

Das Spiel gegen die Niederländerinnen gehört zum Gesamteindruck der ersten Lehrgangswoche unter Gaugisch. Insbesondere wenn man die knapp bemessene Zeit bis zum EM-Turnier (4. bis 20. November) in Betracht zieht.

“Dieses Spiel bot so viele Erkenntnisse”

Gerade die erste Halbzeit gegen die Niederlande offenbarte die derzeitigen Defizite, auch wenn oder gerade weil zahlreiche Leistungsträgerinnen fehlten.

Das Passspiel im Positionsangriff war zu oft zu ungenau und wenn einmal der Durchbruch gelang, wurde frei verschossen.

Bis zur 10. Minute war die Partie noch offen, aber danach lief ohne Spielmacherin Alina Grijseels sehr wenig zusammen. In der verbleibenden Zeit der ersten Hälfte gelangen nur noch zwei Tore, gegen die keineswegs überragenden Weltmeisterinnen von 2019.

Deren druckvoll vorgetragene „zweite Welle“, eine zupackende Abwehr und die herausragende Leistung von Torfrau Yara ten Holte genügten, um den Sieg frühzeitig zu sichern.

Der zweite Umgang gestaltete sich aus deutscher Sicht freundlicher, dank verbesserter Abwehrleistung und einer insgesamt stark aufspielenden Isabell Roch im Tor.

Auch unter dem neuen Bundestrainer bleibt viel zu tun und deswegen hätte Markus Gaugisch direkt im Anschluss an das Spiel gegen die Holländerinnen gerne weitergemacht, „denn dieses Spiel bot so viele Erkenntnisse, die wir noch umsetzen müssen.“

So auch die Elemente, die der neue Coach bereits in seinem ersten DHB Medientermin vorstellte.

Zukünftig will er in der Offensive die „Stärken im 1-gegen-1 ausnutzen“ und die freiwerdenden Räume „besser bearbeiten“ und am anderen Ende des Feldes soll der „Gegner unter Handlungsdruck gesetzt werden“.

Strukturell nichts verändert

Die erfolgreiche Umsetzung seiner Vorstellung von Handball wird nicht zuletzt von der Kooperation der Bundesligavereine abhängen.

Mitwirkung die in der Vergangenheit zu Wünschen übrig liess und auch in der Entscheidung von Gaugisch’s Vorgänger, Henk Groener, eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben dürfte.

Schon unmittelbar nach dem Ausscheiden der Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Spanien, im vergangenen Jahr, legte DHB Präsident Andreas Michelmann den Finger in die Wunde.

„Wir reden viel, aber wir haben strukturell nichts verändert. Es wird Zeit, dass die Liga langsam aus der Brühe kommt. Und für die Landesverbände gilt das Gleiche. Ohne Geld wird das alles nicht gehen.“

Vorhandensein und Einsatz von Finanzmitteln sind die eine Seite der Medaille, aber ist auch das Bewusstsein und der Wille zu Veränderung bei Liga und Verbänden da?

Etwaige Überzeugungsarbeit in den vier Jahren unter dem ehemaligen Bundestrainer, verpuffte. Ein angespanntes Verhältnis zwischen Groener und Liga- und Verbandsverantwortlichen seien u.a. die Gründe dafür gewesen.

Gaugisch’s Doppelrolle

Das soll sich jetzt ändern. Während des vormals erwähnten Medientermins betonte DHB Sportvorstand Kromer nicht nur die Wichtigkeit, sondern auch die Häufigkeit von Kommunikation, im Zusammenhang mit der Person des Bundestrainers.

„Wir brauchen einen Bundestrainer der viel mit den Bundesligatrainern spricht.“

In seiner bis zum Sommer 2023 andauernden Doppelrolle als Vereins- und Bundestrainer wird Markus Gaugisch dafür reichlich Gelegenheit haben und viele von seinen Vorstellungen kann er jede Woche in Bietigheim in Angriff nehmen.

Fünf aktuelle Nationalspielerinnen nehmen auch bei der SG BBM Bietigheim tragende Rollen ein. Antje Lauenroth, Luisa Schulze, Xenia Smits, Julia Maidhof und Jenny Behrend schicken sich an, eine bis dato herausragende Saison mit drei Titeln zu krönen.

In der Meisterschaft liegt die Mannschaft ungeschlagen und unangefochten an der Tabellenspitze, ins FINAL4 der Pokalendrunde geht Bietigheim als klarer Favorit und viele sehen Gaugisch’s Truppe auch im FINAL4 der EHF European League (14. bis 15. Mai in Viborg) vorn.

Speziell ein Sieg im FINAL4 der EHF European League könnte einen wichtigen Impuls auch in Richtung Nationalmannschaft geben und Gaugisch’s Aufgabe dort zumindest kurzfristig befeuern.

Faktor Zeit

Alles andere braucht Zeit. Zeit die zumindest in diesem Jahr kaum noch vorhanden ist.

Die Auslosung zur EHF EURO 2022 welche, bedingt durch die Fussball WM in Katar, dieses Jahr einen Monat früher angesetzt ist, findet bereits diesen Donnerstag statt und im Gegensatz zu einer Handball Weltmeisterschaft wird es im November in Slovenien, Montenegro und Nord-Mazedonien keine einfachen Gegner geben, um sich „warm“ zu spielen.

Was bis dahin innerhalb den Klubs, der Liga und den Landesverbänden geleistet werden kann, wird sich somit schon in Kürze zeigen.

Die Kraftanstrengungen aller Orten sind überfällig und ein baldiges Erfolgserlebnis, so unwahrscheinlich es aus heutiger Sicht erscheint, wäre der Mannschaft zu gönnen, vorausgesetzt man kommt endlich „raus aus der Brühe“ und zieht an einem Strang in die gleiche Richtung.